Liebe Claudia Roth, soziale Standards dürfen in Ihrer Reform nicht unter den Tisch fallen
Sehr geehrte Frau Kulturstaatsministerin, liebe Claudia Roth,
Sie haben mit Ihrer Rede beim deutschen Produzententag 2023 in Ihrer Reform des Filmförderungsgesetzes einen längst überfälligen Wandel angekündigt. Hier sagten Sie: “Soziale Standards und ökologische Nachhaltigkeit müssen
(hier) Hand in Hand gehen”. Wir haben Sie voller Zuversicht beim Wort genommen und Ihnen am 26. Mai in einem Brief Vorschläge unterbreitet, wie aus der Sicht aller relevanten und betroffenen Filmgewerke eine Umsetzung gelingen könnte:
http://initiative-fair-film.de/Brief_der_Initiative_Fair_Film_26.05.23.pdf
Umso enttäuschter sind die rund 8.000 Mitglieder der mittlerweile über 30 Filmverbände unserer stetig wachsenden Initiative Fair Film, dass sich nichts davon in der von Ihnen am 12.09.2023 vorgestellten Reform des Filmfördergesetzes wiederfindet.
Seit Jahren sorgen vor allem die Arbeitsbedingungen und deutlich zu niedrige, teils prekäre Einkommen in der Film-, Fernseh- und Streaming-Branche für eine massive Abwanderung von erfahrenen Fachkräften. Gleichzeitig haben die Filmberufe beim Nachwuchs enorm an Attraktivität verloren.
Die mangelnde Diversität und Geschlechter-gerechtigkeit vor und hinter der Kamera sorgen zusätzlich für einen deutlichen Imageverlust und eine in weiten Teilen zu homogene Filmlandschaft.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Branche sich nicht eigenständig regulieren und reformieren kann. Dem FFG fällt daher eine leitende Rolle und die Aufgabe zu, verbindliche Standards zu setzen. So wie das “grüne Drehen” Verantwortung für den Klimaschutz geschaffen hat, ist es nun Zeit, sich mit sozialen Standards zu akzeptablen Arbeitsbedingungen zu bekennen.
Wenn die Filmbranche arbeits- und zukunftsfähig sein will, braucht es nicht nur klare Vorgaben zur Chancengleichheit, sondern vor allem grundlegende Veränderungen in der Arbeitskultur und einen im FFG verankerten Schutzrahmen für Filmschaffende.
Ein weiteres Mal möchten wir sie daher auf die Dringlichkeit des Themas aufmerksam machen:
Soziale Standards dürfen in Ihrer Reform nicht unter den Tisch fallen!
Anbei finden Sie unsere Forderungen und Vorschläge. Gerne stellen wir sie Ihnen auch in einem persönlichen Gespräch vor.
Für Rückfragen stehen wir jederzeit zur Verfügung . Sie können uns unter mail@initiative-fair-film.de erreichen.
Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung und verbleiben mit herzlichen Grüßen
Die Initiative Fair Film
FORDERUNGEN ZUR VERANKERUNG SOZIALER NACHHALTIGKEIT IM NEUEN FFG
I. GRUNDSÄTZLICH
1. Soziale Standards als Fördervoraussetzung in das FFG implementieren.
2. Jährliche Durchführung einer bundesweiten Branchenstudie
3. Jährliche Einberufung eines runden Tisches zur Evaluierung
II. VERPFLICHTENDE FÖRDERVORAUSSETZUNGEN
4. Tarifverträge, insbesondere der Manteltarifvertrag (TV FFS) sind verbindlich
5. Kalkulationsrealismus bei Budgets und Zeitkontingenten für den gesamten Filmherstellungsprozess und alle Produktionsbereiche
6. Zahlung einer betrieblichen Altersversorgung
7. Die Einhaltung gemeinsamer Vergütungsregeln ist verbindlich
8. Die Einhaltung eines verpflichtenden und überprüfbaren Code of Ethics
9. Verpflichtung zur Diversität und Parität vor und hinter der Kamera
10. Gleiche Bezahlung unabhängig vom Geschlecht.
11. Mehrarbeitsregelungen auch für Selbstständige.
12. Freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige und Freiberufler*innen
13. Anhebung des Tagessatzes von Selbstständigen um mindestens 40% eines vergleichbaren Tarifhonorars.
14. Anerkennung der in GVR und Tarifverträgen vereinbarten urheberrechtlichen Erlösbeteiligungen als vorabzugsfähige Kosten.
15. Investition in Aus- und Weiterbildung (Filmstab)
III. INCENTIVE-PROGRAMME
16. Facilitator Incentive
17. Jobsharing Incentive
18. Child Care Incentive
19. Trainings Incentive
I. GRUNDSÄTZLICH
1. Soziale Standards als Fördervoraussetzung in das FFG implementieren. Während das Filmfördergesetz (FFG) die Einhaltung ökologischer Standards zur Fördervoraussetzung macht, formuliert es die Aspekte der sozialen Nachhaltigkeit nur unverbindlich in § 2. Abs. 9 und § 67 Abs. 11.
Bei Projekten, die mit Mitteln der zukünftigen Bundesförderung , gefördert werden, muss die Einhaltung sozialer Mindeststandards analog zum green filming auf Basis bestehender Gesetze, Tarifverträge und gemeinsamer Vergütungsregeln künftig nicht nur eingefordert, sondern auch verbindlich durchgesetzt werden. Analog zu § 59a Abs. 2 FFG müssen soziale Mindeststandards sowohl für unbefristet und befristet Beschäftigte als auch für Freelancer und Solo-Selbstständige verbindlich im Rahmen einer Richtlinie definiert werden.
Deutschlands soziale Standards beim Film hinken im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern weit hinterher. Längst überfällig ist die Einführung von verbindlichen Regeln und deren entsprechende Finanzierung als Fördervoraussetzung. Ganz aktuell lässt sich das auch an den Konsequenzen sehen, die die Constantin Film aus der Untersuchung der Produktion “Manta Manta – Zwoter Teil” gezogen hat. (https://constantin.film/news/faire-arbeitsbedingungen-constantin-film-setzt-sich-neue-standards-bei-filmproduktionen)
Es geht um:
- Soziale Verträglichkeit der Arbeitszeiten (Sharing-Modelle, Teilzeit)
- Soziale Sicherung (betriebliche Altersvorsorge) mit Hinweispflicht
- Grenzen der Höchstarbeitszeit von 10 Stunden (Europäischer Standard) und unabhängige Kontrolle dieser Bedingungen vor Ort (Kontrolle).
- Einbeziehung der Selbstständigen am Set in die Überstundenregelungen
- Einbeziehung der Selbstständigen am Set in die Ruhezeitenregelungen
- Zuverlässige Zählung der Arbeitszeiten mit Kontrolle (Arbeitszeitkonto)
- Einsatz einer externen, unabhängigen Vertrauensperson als Ansprechpartner*in mit Reporting an Team und Produzen
Wir fordern:
Ergänzung in § 2. Abs. 9 und § 67 Abs. 11.
Projektanträge können nur mit der Verbindlichkeit der Einhaltung sozialer Standards vergeben werden.
Die Definition erfolgt über eine Richtlinie. Es wird unterschieden zwischen verpflichtenden Förder-voraussetzungen und Incentive-Programmen.
2. Jährliche Durchführung einer bundesweiten Branchenstudie ähnlich der Looking Glass Studie in Großbritannien (The Looking Glass – mental health in the UK film, TV and cinema industry).
3. Jährliche Einberufung eines runden Tisches mit allen wichtigen Branchenteilnehmer*innen und den öffentlich-rechtlichen Sendern und den Branchenverbänden zur Evaluierung der Probleme und strukturellen Schwierigkeiten der Branche.
II. VERPFLICHTENDE FÖRDERVORAUSSETZUNGEN
4. Tarifverträge, insbesondere der Tarifvertrag für auf Produktionsdauer beschäftigte Film- und Fernsehschaffende (TV FFS) sind verbindlich und müssen für alle geförderten Produktionen gelten. Sollten Produktionsfirmen nicht tarifgebunden sein, dürfen sie die Ausnahmeregelungen zur Arbeitszeit § 5 nur anwenden, wenn sie den gesamten Tarifvertrag berücksichtigen.
Um zu verhindern, dass Nachwuchs-, Low Budget- und innovative Projekte sowie Filme mit kleineren Strukturen, wie Dokumentarfilme ohne fiktionale Anteile, nicht mehr gefördert werden, sollte es einen eigenen Fördertopf oder eine Quote für diese Projekte geben.
Die Einhaltung der tarifvertraglichen Bedingungen in Gänze ist Fördervoraussetzung.
(An dieser Stelle möchten wir auf die Forderungen von ver.di in den aktuellen Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag für Film- und Fernsehschaffende verweisen: https://filmunion.verdi.de/tarife/++co++85b7a25a-68d1-11ee-8284-001a4a160110)
5. Kalkulationsrealismus bei Budgets und Zeitkontingenten für den gesamten Filmherstellungsprozess und alle Produktionsbereiche. Für einen positiven Förderentscheid müssen die kalkulierten Budgets die Einhaltung sozialer Mindeststandards gewährleisten. Dazu gehören u.a. eine ausreichende Anzahl von Drehtagen, ausreichende Zeit und Mittel für die Drehbuchentwicklung, für Preproduction (z. B. für Kostümbild, Regieassistenz, Szenenbild), und Postproduktion (Tage für Schnitt, Ton-, Bildnachbearbeitung und Mischung) sowie die angemessene Honorierung des Teams.
Drehbücher sollen nicht mehr nur nach Formaten, sondern nach Inhalt und Anspruch kalkuliert werden.
Die eingereichten Kalkulationen sollten, wie bei der MFG-Filmförderung längst gängige Praxis, von Fachpersonen, wie erfahrenen Herstellungsleiter*innen überprüft werden. Bei zu gering kalkulierten Mitteln gibt es die Chance der Nachbesserung, ohne die nicht gefördert wird.
Auch die Einordnung in die Sparte Talent (Nachwuchs-), Debüt- oder Low-Budget-Film darf nicht dazu führen, dass andere bzw. niedrigere soziale Standards gelten. Die Einordnung in diese Sparte ist an strenge Bedingungen zu knüpfen (wie bspw. erster Film, dokumentarische Produktion).
6. Zahlung der betrieblichen Altersversorgung. Die Bereitschaft der Branche, die klassische Altersvorsorge zu unterstützen und an den entsprechenden Altersvorsorgesystemen wie bspw. der Pensionskasse Rundfunk teilzunehmen, ist seit Jahrzehnten gleich null, und wird von allen großen wie kleinen Kino-Filmproduktionsfirmen rundweg abgelehnt. Daher soll die Vergabe von Fördergeldern an die Bedingung geknüpft werden, dass den Mitarbeiter*innen der Beitrag zur betrieblichen Altersversorgung gezahlt wird.
Ergänzung in § 2. Abs. 9 und § 67 Abs. 11.
Die Vergabe von Fördergeldern ist an die Bedingung gebunden, dass den Mitgliedern des Teams der Beitrag zur betrieblichen Altersversorgung gezahlt wird.
7. Die Einhaltung gemeinsamer Vergütungsregeln ist verbindlich und muss für alle geförderten Produktionen gelten.
78. Die Einführung eines verpflichtenden und überprüfbaren Code of Ethics nach dem Vorbild des österreichischen Filminstituts wird Fördervoraussetzung. (https://filminstitut.at/code-of-ethic). Der Code of Ethics soll Teil der Förderverträge werden.
9. Verpflichtung zur Diversität und Parität vor und hinter der Kamera, um verfestigte Strukturen aufzubrechen und die Vielfalt unserer Gesellschaft abzubilden sowie die Einführung wirksamer Instrumente zum Erreichen dieser Ziele und zur Förderung unterrepräsentierter r Gruppen in allen Förderbereichen.
10. Gleiche Bezahlung unabhängig von jedwedem Geschlecht. Chancengleichheit und Parität vor und hinter der Kamera müssen obligatorisch werden, um den eklatanten Gender-Pay-Gap von durchschnittlich 35% zu schließen.
11. Mehrarbeitsregelung auch für Selbstständige und Freiberufler:innen. Mehrarbeitsregelungen müssen auch für pauschal bezahlte Selbstständige zur Anwendung kommen (Regie, Kamera, Szenenbild, Kostümbild usw.). Dies ist in den Kalkulationen zu berücksichtigen.
12. Freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige und Freiberufler:innen. Für Selbstständige soll eine freiwillige Arbeitslosenversicherung als soziale Sicherung verbindlich ergänzt werden. Dies ist in den Kalkulationen zu berücksichtigen.
13. Anhebung des Tagessatzes von Selbstständigen und Kleinstunternehmer*innen um mindestens 40% eines vergleichbaren Tarifhonorars. Bei Gewerken, die im Gagentarifvertrag nicht gelistet sind, gelten die Gagenempfehlungen der Berufsverbände. Dies ist in den Kalkulationen zu berücksichtigen.
14. Anerkennung der in GVR und Tarifverträgen vereinbarten urheberrechtlichen Erlösbeteiligungen als vorabzugsfähige Kosten. Urhebern und weiteren Berechtigten stehen nach gemeinsamen Vergütungsregeln und tarifvertraglichen Regeln Erlösbeteiligungen zu. Bei der Rückzahlung von Förderdarlehen sollen diese Erlösbeteiligungen wie anderen Kosten der Produktionsfirmen als vorabzugsfähige Kosten anerkannt werden. Wir fordern, die in GVR und Tarifverträgen vereinbarten Folgevergütungen als vorabzugsfähige Kosten bei der Rückzahlung von Fördermitteln / Tilgung von Förderdarlehen nach § 78 FFG anzuerkennen.
15. Investition in Aus- und Weiterbildung (Filmstab und Filmstabnachwuchs) Wiedereinführung (vormals bis 01.01.2014 in § 68 Abs. 8. FFG geregelt) einer Quote für Weiterbildungsmaßnahmen. Ergänzend Einführung eines zusätzlichen Förderzuschusses (Qualifizierungsbonus) in Höhe von 5 % der anerkannten Herstellungskosten, sofern das Vorhaben Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für Mitarbeiter*innen aus dem Filmstab und dem Filmstabnachwuchs umgesetzt hat. (In Anlehnung an den “Greenbonus” des österreichischen Filmförderungsgesetzes § 12a. (5))
III. INCENTIVE-PROGRAMME
Incentive-Programme sollen Produzent*innen motivieren, neue sozial nachhaltige Strukturen zu schaffen. Ziel soll es dabei sein, Erfahrungswerte zu sammeln und damit langfristig Strukturen so zu verändern, dass die Branche erfahrene Fachkräfte hält und attraktiver für den Nachwuchs wird. Wird bei einem Förderprojekt die Erfüllung der Anforderungen eines Incentives nachgewiesen, erhält die Produktionsfirma automatisch weitere projektbezogene Fördermittel in Höhe einer bestimmten Summe. Die Produktionsfirma kann mehrere bzw. auch alle Incentive-Programme bei einem Projekt in Anspruch nehmen.
16. FACILITATOR INCENTIVE
Einsatz einer externen, unabhängigen Vertrauensperson als Ansprechpartner*in (vgl. BFI “Well-Being-Facilitator” https://www.bfi.org.uk/news/wellbeing-facilitator)
17. JOBSHARING INCENTIVE
Jobsharing als flexibles Arbeitszeitmodell, bei dem sich zwei oder mehr Arbeitnehmer*innen mindestens eine Vollzeitstelle teilen.
18. CHILDCARE INCENTIVE
Angebot von Kinderbetreuung am Set.
19. TRAININGS INCENTIVE
Schulungen und Workshops für das Führungspersonal und Cast und Crew!